Giorgio Moroder hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Musikwelt ausgeübt. Disco, Techno, Synth-Pop – jedes dieser Genres verdankt bestimmte Charakteristika dem umtriebigen Produzenten, dessen Diskographie ein bemerkenswertes Mosaik aus Genialem und Grenzwertigem ergibt. Für den Track Giorgio by Moroder von Daft Punks neuer LP Random Access Memories setzte sich Moroder in ein Studio, um über sein Leben und seine Musik zu sprechen.
Neu ist diese Idee nicht. Assoziationen zu DJ Shadows Endtroducing….. werden geweckt. Auf dessen passend benanntem Track Building Steam With a Grain of Salt benutzt Shadow Ausschnitte aus einem Interview mit dem Jazzdrummer George Marsh. Marsh erzählt von der Zeit des Lernens, die nie aufhöre, und wie er alle Musik, die er höre, in sich aufnehme, sodass seine eigene Musik am Ende kein Produkt seiner selbst sei („It’s not really me that’s coming, the music’s coming through me“). Es ist eine Praxis, die tief im Wesen des Pop liegt: Aus Altem wird Neues geschaffen, aus Fremdem Eigenes. DJ Shadows nahezu ausschließlich aus Samples bestehendes Album wurde eine der einflussreichsten LPs der Neunziger.
Es gibt einen kleinen aber bedeutsamen Unterschied zwischen Shadows Sample und Moroders Rolle auf Random Access Memories: Shadow nutzt eine Stimme aus der Vergangenheit und nimmt dessen zeitlos gültige Aussagen über Kunst, um sie in ein – zu seiner Zeit – neuartiges Kunstwerk zu verarbeiten. Daft Punk nutzen eine Stimme aus der Vergangenheit und lassen sie von der Zukunft der Vergangenheit erzählen, während ihr Kunstwerk versucht, den Klang ebendieser längst überholten Vision wieder aufleben zu lassen. Man kommt gar nicht daran vorbei, das als Retrofuturismus zu bezeichnen. Und die Rechnung geht auf: Random Access Memories wurde zur Konsensplatte des Jahres. Ihr größter Verbündeter in diesem Unterfangen: Die Zeit.
Guy-Manuel de Homem-Christo und Thomas Bangalter begeben sich zurück zur Quelle. Große Teile des Albums sind detaillierte Rekreationen des Disco-Sounds der Siebziger; zwar zeitgenössischer produziert aber mit einem ähnlichen Fokus auf High Fidelity wie vor vierzig Jahren. Zwölf Jahre nach Discovery folgt die Rediscovery.
Einer der Kollaborateure der LP ist Nile Rodgers, Gitarrist der Disco-Urgesteine Chic, der seine Trademark-Rhythmen zu drei Tracks beisteuert. Mit der Disco-Ära begeben sich Daft Punk an den Anfang des Dance, der sich mit der Zeit mehr und mehr elektronisierte, doch als zahm und weichgespült verschrien war. (Nicht umsonst wurde im Zeitalter von Disco und Punk – zwei sehr unterschiedlichen aber gleichermaßen folgenreichen Bewegungen, die sich als Gegenpole zu Classic und Progressive Rock offenbarten – der Begriff des Rockismus geprägt.)
Dass ausgerechnet eine Disco-Platte im Jahr 2013 dazu in der Lage ist, die Pop- und Rock-Fraktionen unter ein Dach zu platzieren, kommt unerwartet, ist aber nicht unlogisch. Die Konzentration auf organische Instrumente kommt den Puristen entgegen; nur ein einziger Track (der Closer Contact) enthält ein Sample. Die Softrock- und Progressive-Pop-Anleihen tun ihr übriges (Beides wird verbunden mit dem Paul Williams-Feature auf Touch.), während es genug Groove und Hooklines für den Pop-Conaisseur gibt. Was das Zielgruppen-Management angeht ist Random Access Memories ein Geniestreich, nach dem sich so manche Marketing-Firma nur die Finger lecken kann.
Zwischen diesen Polen gibt es genügend Austausch, um den LP-Flow stimmig zu halten. Within kreuzt ein sehr spartanisches Softrock-Arrangement mit den Daft Punk-typischen Computer-Vocal-Lines, während Paul Williams auf Touch zuerst mit verzerrter Stimme gegen Noise ansingen muss, während das Stück seinen Höhepunkt mit Orchester und Chor findet. Viele ihrer Höhepunkte findet die Platte dann, wenn Bangalter und de Homem-Christo dreist genug sind, um die eigentlich engen Grenzen, die sie sich selbst auferlegt haben, auszutesten. Eine neunminütige Hommage an eine Disco-Legende ist zumindest nicht unbedingt das, was man auf einem Album zu finden erwartet, das weltweit den ersten Platz der Charts belegte.
Doch genau das ist der vielleicht wichtigste Teil des Unterfangens: Random Access Memories ist vor allem als Album konzipiert. Das mag offensichtlich klingen, ist aber als Gegensatz zu solchen Alben zu verstehen, bei denen die LP das Ergänzungswerk zur Single (beziehungsweise heutzutage dem erfolgreichsten Track) darstellt statt andersherum.
Gerade in diesem Kontext macht die Zeitreise in die Siebziger Sinn. Es war das Jahrzehnt von The Dark Side of the Moon; die Pop-Ära, in der der Wert des Gesamtkunstwerks „Album“ über dem der einzelnen Tracks lag, sprich: in der Rock-Ideale dominierten. Mit dem seine eigene Kurzlebigkeit verherrlichenden Punk und der durch MTV begünstigten Zurückverlagerung des Marktfokus auf Singles kam diese zu einem abruptem Ende. (Ihr Erbe lebt jedoch in der Albumlastigkeit des Pop-Kanons und der entsprechend vorherrschenden Prioritätensetzung unter Musikinteressierten weiter.)
Bei aller Menschlichkeit, die durch die Verwendung von Live-Instrumenten und Gastsängern in das Projekt getragen wird, ist Random Access Memories ein perfektionistisches Album. Darum die immense Arbeit, die offensichtlich in jede einzelne Sekunde gesteckt wurde; ein derart akribisch produziertes Album dürfte schon lange keine Charts mehr angeführt haben. Und darum die Überlänge (ein Phänomen, das sich im Pop-Jahr 2013 allzu oft beobachten ließ). Mit dieser Konzeption kommen aber auch die Schwierigkeiten: Wo in Sound und Produktion Perfektion herrscht, wurde an so manchem Song – as opposed to track – gespart.
Da wäre Instant Crush, in dem Julian Casablancas einen weiteren Ort findet, an dem er nach seiner zwölf Jahre nach Is This It? verlorgengegangenen Relevanz suchen kann, indem er versucht, halt irgendwie anders zu singen. Es gelingt ihm genauso wenig wie auf den letzten Strokes-Alben. Das darauf folgende Lose Yourself to Dance verlässt sich etwas zu sehr auf seinen Groove und verkommt zu einem deutlich unaufregenderem Get Lucky. Ähnlich spannungsarm verhält es sich bei Fragments of Time, bei dem man sich nur schwerlich des Eindrucks erwehren kann, die glanzlose Gesangsmelodie schon hundert mal gehört zu haben, bevor der Track das erste Mal lief.
Natürlich ist es nichts ungewöhnliches für ein Pop-Album, dass wiederkehrende Elemente eine tragende Rolle spielen, und es wäre töricht, alleine aus dem Fakt, dass etwas wiederholt wird, einen Kritikpunkt zu machen. Doch der qualitative Abfall zwischen ähnlichen Ideen ist genauso zu beachten wie der zwischen unterschiedlichen. Mit 74 Minuten Spiellänge ist Random Access Memories damit einfach mindestens 20 Minuten zu lang.
Nun ist es aber überhaupt nicht so, dass Daft Punk mit dem Konzept der Pop-Single auf Kriegsfuß stehen würden. Ganz im Gegenteil haben sie dieses Jahr mit Get Lucky einen der besten Chart-Hits der letzten Jahre veröffentlicht. Get Lucky ist tanzbar, unglaublich tight arrangiert, catchy und mit einem wie in Stein gegossenen Songaufbau versehen. Und er funktioniert an verschiedenen Fronten: Als Single und als Albumtrack. Im Albumkontext entwickelt der Song gar einen Subplot.
Denn wie David Bowies The Next Day ist Random Access Memories in erster Linie ein Album über Pop (als Überbegriff ohne ideologische Konnotationen, die über seine Auslegung als „Populärmusik“ hinausgehen). Anders als Bowies Comebackalbum – und überraschenderweise, wenn man die Albumlastigkeit des Konzepts bedenkt – jedoch eines, das sich bei seiner Betrachtung des Pop hauptsächlich an dessen Oberfläche aufhält. Zwar spielt es gleichwohl mit Vergangenheit und Historizität, doch versucht es nicht, dessen Entwicklungslinien zu durchbrechen.
Letzten Endes ist die Message eine erstaunlich konservative: „We’ve come too far to give up who we are“. Daft Punk mögen das noble Ansinnen verfolgen, die Aufmerksamkeitsspanne speziell des Mainstreams wieder auf Albumlänge zu strecken, einen grundlegenden Wandel wollen und werden sie nicht herbeiführen. „We’re out tonight to get lucky“ ist ihnen als Motto völlig ausreichend. So entsteht inhaltlich eine Mélange aus Pop und Rock, die Konzepte zu vereinigen versucht, die man selten zusammen sieht. Zu diesem Zweck müssen beide Extreme relativiert werden. Random Access Memories ist die moderate Mitte.